„Wäre es nicht in einer Vitrine, würde es vielleicht gleich weggeschmissen“, sagt Ruth Ur und verweist auf ein unscheinbares Stück Stoff hinter Glas. Für die Kuratorin der Ausstellung „Sechzehn Objekte – Siebzig Jahre Yad Vashem“ hat das Exponat eine besonders bewegende Geschichte. 16 Bundesländer, 16 Objekte – das kleine Textil ist Brandenburgs Beitrag zur Ausstellung, die derzeit im Deutschen Bundestag zu sehen ist. Anlass ist der diesjährige Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und der 70. Jahrestag der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.
Die 16 Gegenstände sind Leihgaben der Gedenkstätte, so auch jener Stofffetzen aus Brandenburg, das letzte Überbleibsel einer Fahne des jüdischen Pfadfinderbundes “Maccabi Hatzair”. Die Organisation führte eine handwerkliche Ausbildungsstätte nahe der Stadt Trebbin in der Ortschaft Ahrensdorf für 80 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, um sie auf eine Zukunft in Israel vorzubereiten – solange das nationalsozialistische Regime die „Hachschara“, die Ausbildung junger Juden, noch zuließ. In einem ehemaligen Jagdschlösschen lebten ab 1936 die jungen Leute hier noch nahezu unbehelligt.
Das änderte sich nach der Reichsprogromnacht des Jahres 1938. Auch aus der Dorfbevölkerung schlug ihnen nun unverblümter Hass entgegen. Einer der Gruppenleiter, Hans Gattel, der das nachfolgende Inferno überlebt hat, schrieb später über die lezten zwei Jahre in Ahrensdorf: „Und das Schlimmste: Es ging manchen von uns die Hoffnung verloren.“
Als 1941 das Hachschara Landwerk Ahrensdorf von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) übernommen und geschlossen wurde, stand bereits der Abtransport der Jugendlichen und ihrer Lehrer ins Landwerk Neuendorf nahe Fürstenwalde fest. Hier hielten sich bereits über 200 junge Juden auf, die unter Gestapo-Bewachung Zwangsarbeit zu leisten hatten. Es war kein Geheimnis, dass ihnen allen bald der Abtransport ins Konzentrationslager Auschwitz bevorstand.
In den folgenden zwei Jahren leerte sich Neuendorf zusehends. Der 7. April 1943 war der Vorabend des Abtransports der verbliebenen Jugendlichen und ihrer Leiter. Die damals 29-jährige Jugendleiterin Anneliese Borinski, die zwei Jahre zuvor mit den „Ahrensdorfern“, wie sie sich nannten, nach Neuendorf gekommen war, beschreibt, was geschah.
Bei der letzten Zusammenkunft trugen alle ihre Pfadfinder-Uniform. Es wurde gesungen und jemand brachte eine Fahne, der der Mittelteil, die Pfadfinder-Lilie, fehlte. Es war die Fahne der Ahrensdorfer. Die Lilie war bereits früher einmal ausgeschnitten worden und vermutlich bereits in Israel angekommen. Dann schnitt jemand die Flagge in zwölf Teile und verteilte die Stücke an zwölf Personen.
Anneliese Borinski: „Bei dieser Gelegenheit versprachen wir einander, stets gut auf unseren Teil der Flagge zu achten und, sobald wir uns in Israel wiedersehen würden, alle Teile wieder zur Flagge zusammenzunähen. Mein Flaggenstück ist bis auf den heutigen Tag bei mir. Es war bei mir bei allen Durchsuchungen und all den Selektionen in Auschwitz. Ich durfte es nicht verlieren, weil ich ein Versprechen abgegeben hatte, und dieses Versprechen hat mich angetrieben.“
Anneliese Borinski überlebte Auschwitz wie vermutlich nur wenige aus den 32 Hachschara-Stätten, die es damals in Deutschland gab. 2007 übergab ihr Sohn der Gedenkstätte Yad Vashem das Stück Stoff, das einzige aus der Pfadfinderfahne der Ahrensdorfer, das Israel erreicht hat.
Nichts erinnert heute noch an die Zeit der Hachschara Landwerke in Deutschland. Mit einer Ausnahme: das Jagdschlösschen in Ahrensdorf, jenem Ortsteil der Gemeinde Nuthe-Urstromtal im Landkreis Teltow-Fläming. Ein Förderkreis begab sich vor Jahren auf die Spur jener gut 300 jungen Leute, die von 1936 bis 1941 hier Zuflucht gefunden hatten, und setzte sich dafür ein, aus dem Jagdschlösschen eine Gedenkstätte zu machen.
Es sollte anders kommen. In den neunziger Jahren erhielt ein privater Kaufinteressent den Zuschlag und erwarb das Gebäude, das vormals als Altenheim gedient hatte. Der Förderkreis löste sich 2018 auf. Die „Brücke in ein neues Leben“, wie die Jugendlichen damals ihr Ahrensdorfer Ausbildungsheim genannt hatten, verfällt immer mehr. Unbekannt ist, welche Pläne der Besitzer mit dem Gebäude verfolgt. Lediglich eine Stele des Künstlers Manfred Stenzel erinnert noch an den historischen Ort.
Nuthe-Urstromtals Bürgermeister Stefan Scheddin, der selbst aus Ahrensdorf stammt, sagt: „Ich bin enttäuscht, dass sich hier nichts mehr bewegt. Das Haus hätte eine würdige Gedenkstätte für das Hachschara Landwerk Ahrensdorf sein können.“
Demnächst wird ein kleines Stück Stoff seine Rückreise nach Israel antreten und noch lange in der Gedenkstätte Yad Vashem an die „Ahrensdorfer“ erinnern, deren Gedächtnis in Teltow-Fläming dem schleichenden Vergessen preisgegeben ist.
Ausstellungs-Kuratorin Ruth Ur spricht über das Ausstellungsstück aus dem Landwerk Ahrensdorf:
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Quelle: Deutscher Bundestag